Kategorie: Bücher

  • David Graeber, David Wengrow: Anfänge

    Der inzwischen leider verstorbene Anthropologe Graeber und der Archäologe Wengrow untersuchen die Frühgeschichte der Menschheit mit Blick auf das heutige Wissen über ihre soziale Organisation.

    Damit wenden sie sich vor allem gegen eine landläufige Lesart, der auch ich als jemand, der soziologische Systemtheorie schätzt, anhänge. Ihr zufolge habe sich die Entwicklung im Wesentlichen von einfachen hin zu immer komplexeren Gesellschaften vollzogen.

    Damit einher geht (was mich betrifft) eine traurige Unausweichlichkeit (oder gar Alternativlosigkeit) der Gegenwart. Repräsentative Demokratie und kapitalistische Marktwirtschaft seien das höchste der Gefühle und das Beste, war wir bis hierher erreichen konnten. Denke ich das? Schon, ja. Bin ich damit zufrieden? Eher nicht.

    Aber ich verwehre mich oft gegen ein „Herumdoktorn“ an der Demokratie, etwa mit Bürgerräten, Parite-Gesetzen, Losverfahren und weitreichender direkter Demokratie, weil ich glaube, dass wir mit den Instrumenten, die wir haben, Probleme durchaus lösen können – und zwar nicht schlechter als mit anderen Instrumenten, wohl aber mit unabsehbaren Nebenfolgen.

    Graeber und Wengrow wollen gerade diese Unausweichlichkeit und Alternativlosigkeit der Gegenwart abräumen, indem sie aufzeigen, wie vielfältig soziale Ordnungen in der menschlichen Vergangenheit waren und wie selbstverständlich Gruppen und Völker mit ihnen experimentiert haben sollen.

    Wie sind wir stecken geblieben? Wie sind wir bei einer einzigen Ordnung gelandet?

    Diese Schilderungen, die rund um die Welt und an etliche unerwartete Orte führen, sind über viele hundert Seiten uneingeschränkt faszinierend und hochgradig empfehlenswert – zumal sie den Menschen unabhängig von ihrem angeblichen „Entwicklungsstand“ ein Maß an Agency und Selbstbestimmung zuschreiben, das selten ist.

    Aufgeräumt wird dabei auch – stets im Lichte aktueller archäologischer Erkenntnisse – mit lange bestehenden Mythen, etwa, dass Landwirtschaft Privateigentum und Territorialität herbeigeführt habe, oder, dass Bewässerungssysteme nur mit Bürokratie und Hierarchie hätten errichtet werden können.

    Die größten politischen Errungenschaften resultieren oftmals aus Epochen, die gerne als dunkle Zeitalter abgetan werden, weil sie nicht mit grandiosen Bauwerken aufwarten können.

    Eine echte Antwort auf die Frage, wo wir stecken geblieben sind, liefern die beiden Autoren meines Erachtens nicht. Aber geweckt wurde bei mir ein gehöriges Maß an Experimentierfreude hinsichtlich sozialer Ordnungen. Über dieses Buch werde ich hoffentlich noch lange nachdenken.

  • Erneut gelesen: Recursion von Blake Crouch

    Nach Dark Matter erneut und Upgrade erstmals habe ich auch diesen Blake Crouch gerne nochmal gelesen. Hier zur Erstbesprechung.

  • Montag, 18. Juli 2022: Zen-Geist im Home Office

    Gestern vollendete ich das Buch Zen-Geist Anfänger-Geist von Shunryu Suzuki. Wie ich andernorts schon schrieb, üben derartige Bücher eine entspannende Wirkung auf mich aus und mehr muss dazu eigentlich nicht gesagt werden. Ich könnte nicht erklären, ob und warum gerade dieses Buch nun gut oder schlecht wäre.

    Davon abgesehen war ich heute genau einmal draußen, dachte mir, dabei müsse es sich wohl um einen Witz handeln und bin wieder rein. Es ist sehr heiß und das ist natürlich überhaupt nicht witzig. Umso bewusster bin ich mir des Privilegs, daheim arbeiten zu können (bzw. zwei Tage die Woche am Arbeitsplatz arbeiten zu sollen; das werden in dieser Woche Donnerstag und Freitag sein) und umso mehr weiß ich unsere nachhaltig kühle Wohnung zu schätzen.

  • Kim Stanley Robinson – The Ministry for the Future

    Kim Stanley Robinson beschreibt in The Ministry for the Future, wie die Menschheit mit dem Klimawandel umgeht. Das Buch ist eine Art fiktionale Dokumentation, die zwischen den sporadischen romanhaften Erzählungen der beiden Protagonisten aus Sitzungsprotokollen, Augenzeugenberichten namenloser Ich-Erzähler und Infodumps zu ökonomischen Konzepten und Glaziologie besteht.

    Ehe es besser wird, wird es schlimmer. Und besser nur, wenn dafür harte politische Entscheidungen auf globaler Ebene getroffen werden. Schilderungen, wie die zustande kommen, nehmen großen Raum in dem Buch ein. Das trägt zu seinem immensen Realismus bei, was mir gefallen hat.

    Dann allerdings gab es einen wirklich großartigen Schlusspunkt in der Erzählung, bei dem ich überzeugt war, dass nach dem Umblättern ein langer Anhang oder ähnliches beginnen würde. Allerdings geht die Geschichte danach noch sehr lange weiter und wurde eher ermüdend und zäh.

  • Judith Hermann – Nichts als Gespenster

    Gut, aber nicht so gut wie Sommerhaus, später. Waren die Figuren, Szenen und Geschichten dort so minimal wie möglich gezeichnet, ohne Skizzen zu sein, arbeitet Hermann hier mit vielen breiten Pinselstrichen.

  • Judith Hermann – Sommerhaus, später

    Der Name Judith Hermanns fiel in den letzten Wochen aufgrund von Poetikvorlesungen, die sie in Frankfurt absolviert hat. Das nahm ich zum Anlass, um nach ein Vierteljahrhundert den Kurzgeschichtenband Sommerhaus, später wieder aus dem Regal zu ziehen.

    Seltsamerweise konnte ich mich an einen Teil der Geschichten sehr gut, an die übrigen hingegen überhaupt nicht erinnern. Ebenfalls nicht mehr präsent war mir deren wirklich erstaunliche literarische Qualität, die wirkt ohne anstrengend zu sein.

    Und die verstrichene Zeit seit Verfassen und Erscheinen – immerhin fünfundzwanzig Jahre? Vielleicht wären so offenkundig weiße thirtysomething Mittelstandsmenschen, die mal gar keinen und mal entspannten künstlerischen Berufen anstrengungslos nachgehen, so nicht mehr ohne Weiteres möglich. Berlin wäre wohl wesentlich präsenter (und nerviger) mit mehr Namen von Bezirken, Straßen und Lokalen, das ist hier zum Glück noch nicht so.

    Eigentlich weiß ich aber verblüffend wenig darüber, was und wie moderne deutsche Literatur eigentlich so schreibt. Ein Umstand, den es zu ändern gilt, aber vorher lese ich noch mehr von Judith Hermann.

  • Paul Cornell – Rosebud

    Nun, das war seltsam. Aber immerhin kurz. Die digitale Crew eines milimetergroßen Raumschiffs stößt auf ein Big Dumb Object in Form einer schwarzen Kugel, das in durchaus interessanter Weise Zeit manipulieren kann. Konfus, aber auch unterhaltsam.

  • Adam Przeworski – Krisen der Demokratie

    Adam Przeworski – Krisen der Demokratie

    Adam Przeworski zählt wohl zu den hochkarätigeren noch tätigen Politikwissenschaftlern. Der Zunft also, die sich in den vergangenen Jahren wohl häufiger gefragt hat, was eigentlich gerade los ist – und die aus meiner Sicht nicht besonders gut darin war, Antworten zu liefern.

    In Krisen der Demokratie unternimmt Przeworski einen durchaus gelungenen Versuch. Nah am Forschungsstand, aber auch mit angemessen kritischer Distanz untersucht er, was Demokratien stabilisiert und destabilisiert. Die Antwort in Kurzform: It’s the economy, stupid.

    Das finde ich ausgesprochen wohltuend, weil ich die Forschung zur Konsolidierung von Demokratie immer recht nahe an Wenn der Hahn kräht auf dem Mist empfunden habe: Eine Vielzahl von Dimensionen, von Kultur und Religion bis hin zu Klima und Geographie, könnten Einfluss auf den Bestand einer Demokratie haben, müssen das aber nicht. Die einzige wirklich belastbare Kategorie sei die wirtschaftliche Entwicklung und der Grad an Verteilungsgerechtigkeit, wie Przeworski unter Bezug auf zahlreiche empirische Befunde nachweist. Und um beides – Entwicklung und Gerechtigkeit – sei es in den vergangenen Jahrzehnten schlecht bestellt:

    Trotz Kriegen und Wirtschaftskrisen gab es in den vergangenen 200 Jahren keinen einzigen 30-Jahres-Zeitraum, in dem die Durchschnittseinkommen sanken. Wenn die Menschen heute die Zukunftsaussichten ihrer Kinder als schlecht einschätzen, könnten wir es also mit einer historisch einmaligen Verschiebung zu tun haben.

    Auch wenn der Autor diese These vielfach belegt, so nimmt er immer auch wieder kritische Distanz ein: Wir wissen nicht, ob eine Kausalität vorliegt, in welche Richtung sie weist und welche Drittvariablen sie überformen. In besonderer Weise kommt es natürlich auf handelnde Personen an. Aber auch das weiß man immer nur hinterher.

    So ist Krisen der Demokratie eine lohnenswerte Kurzstudie und Politikwissenschaft im besten Sinne: Sich nicht im Labyrinth der Empirien mit zweifelhafter Aussagekraft verirrend, mit klaren Begrifflichkeiten und eben kritisch.

    Ein wenig erstaunte mich das vielfach schlechte Lektorat. Angefangen bei in die Zwischenüberschrift gerutschten Absätzen, verunglückten Quellenangaben wie „Autor et. al. (1997)“ und schlichten Rechtschreibfehlern schien der Band in der mir vorliegenen Auflage doch sehr mit heißer Nadel gestrickt.

  • Bücher 2021

    Drei Bücher haben mich im letzten Jahr besonders beeindruckt:

    Project Hail Mary

    Optimistische, friedvolle (as in nicht militärisch), packende Science Fiction, wie schon Der Marsianer mit einem unverwüstlichen Space-McGyver in der Hauptrolle. Das ist wohl der eine Charakter, den Andy Weir schreiben kann oder mag. Außerdem hard SciFi im besten Sinne, also wissenschaftlich fundiert geschrieben, ohne Leser mit Techno-Babble zu überfordern.

    Darkness at Noon

    Der alternde Bolschevik Rubashov wird von der immer unmenschlicher werdenden Parteibürokratie zermalmt. Ein Meisterwerk, das auch seinen geistigen Zwilling 1984 in den Schatten stellt.

    Piranesi

    Von allen Geschichten aus dem weiten Genre der Fantastik, die ich in den vergangenen Jahren gelesen habe, wohl die seltsamste, schönste und berührendste.


    Und hier die vollständige Liste meiner in 2021 gelesenen Bücher – nebst meiner neuen Sternchenbewertungen:

    1. Alastair Reynolds – Revelation Space – ★★☆☆☆
    2. Jesmyn Ward – The Fire This Time : A New Generation Speaks about Race -★★★★☆
    3. Jeff vanderMeer – Annihilation – ★★★★★
    4. Kathryn Schulz – The Best American Essays 2021 – ★★★★☆
    5. Tade Thompson – Far from the Light of Heaven – ★★★☆☆
    6. Joe Haldeman – The Forever War – ★★☆☆☆
    7. Alan Watts – Zen – ★★★★☆
    8. Marlen Haushofer – Die Mansarde – ★★★☆☆
    9. Werner Herzog – Vom Gehen im Eis – ★★★☆☆
    10. Max Frisch – Stiller – ★☆☆☆☆
    11. Marge Piercy – Woman on the Edge of Time – ★★☆☆☆
    12. Alastair Reynolds – House of Suns – ★★★☆☆
    13. Haruki Murakami – Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede – ★★★☆☆
    14. Christopher McDougall – Born to Run – ★★☆☆☆
    15. Wolfgang Welt – Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe – ★★★☆☆
    16. Andy Weir – Project Hail Mary – ★★★★★
    17. Tom Hillenbrand – Qube – ★★★☆☆
    18. Arthur Koestler – Darkness at Noon – ★★★★☆
    19. Michael Marrak – Das Haus Lazarus – ★★☆☆☆
    20. Richard Seymour – The Twittering Machine – ★★★☆☆
    21. Kevin Roose – Futurepeoof – ★★★☆☆
    22. Judith Shklar – Über Ungerechtigkeit – ★★★☆☆
    23. Kathrin Passig – Je Türenknall desto Wiederkomm – ★★★☆☆
    24. Giovanni Sartori – Demokratietheorie – ★★★★☆
    25. Iain M. Banks – The State Of The Art – ★★★☆☆
    26. Max Brooks – Devolution – ★★★☆☆
    27. Ben Smith – Doggerland – ★★☆☆☆
    28. Susanna Clarke – Piranesi – ★★★★☆
    29. Alexander Weinstein – Universal Love – ★★★☆☆
    30. Hugh Howey – Wool – ★★☆☆☆
    31. Niklas Luhmann – Die Wissenschaft der Gesellschaft – ★★★★☆
    32. Niklas Luhmann – Soziale Systeme – ★★★☆☆
    33. John Scalzi – The Ghost Brigades – ★★☆☆☆
    34. Stefan Zweig – Die Welt von gestern – ★★★★☆
  • Alastair Reynolds – Revelation Space

    Meinen letzten Reynolds (House of Suns) habe ich ja in einer Liste von SF-Büchern gefunden, die dezidiert nicht Bestandteil einer Serie sind. Hätte ich doch nur bei Revelation Space darauf geachtet, so wäre mir diese Lektüre vielleicht erspart geblieben, denn natürlich eröffnet der Band ein ganzes Universum aus Fortsetzungen und Kurzgeschichten.

    Revelation Space ist vor allem unfassbar langweilig. Es hat keinerlei Figuren, für die man sich interessieren könnte, die Handlung schleppt sich mühsam von einem Infodump zum nächsten. Zum Ende hin wird ein milde interessantes SF-Konzept eingeführt, um das man sicher eine interessante Geschichte hätte schreiben können. Revelation Space ist das nicht.