Autor: Wolf

  • Nick Reimer & Toralf Staud — Deutschland 2050

    Ein Buch, von dem ich erst dachte, dass ich es nicht brauche, weil ich schon alles weiß. Welch ein Irrtum.

    Die Folgen des Klimawandels werden hier anhand von unzähligen Beispielen illustriert, die sich aus Begegnungen mit Praktikern und Wissenschaftlern ergeben haben, darunter Förster, Obstbauern, Logistiker, zahlreiche Vertreter der kommunalen Verwaltung, Feuerwehrleute, aber auch Wirtschaft und insbesondere Mittelstand.

    Eindrucksvoll ist, in welchem Maße sich Wirtschaft und Gesellschaft bereits mit den Folgen auseinandersetzen. So ist das Buch vor allem ein gutes Gegengewicht zu den ermüdend idiotischen Social Media Debatten zwischen Aktivisten (die hier angenehmer Weise überhaupt keine Rolle spielen) und dem anti-aktivistischen Ressentiment.

    Allerdings wird es – das ist die wesentliche Quintessenz des Buches – nicht reichen.

  • Thomas Wagner – Fahnenflucht in die Freiheit

    Das Buch knüpft unmittelbar an Anfänge von Graeber und Wengrow an, und vertieft das kontraintuitive Verhältnis früher Staatlichkeit zu ihren Untertanen. Die haben sich nämlich, so die These, viel häufiger in das „barbarische“ Umland verdünnisiert, als sie sich den Verhältnissen fügten.

    Das wird hochinteressant am alten Testament („Das Reich Gottes ist die Anarchie“) und der Vagabundenbewegung und geringfügig weniger interessant an Freibeutertum durchgespielt.

    Ein tolles Buch, das sich mit seinen rund 200 Seiten an einem Wochenende lesen lässt. Es ist nämlich vor allen Dingen sehr spannend.

  • Gent Tag 1

    Weder fotografiere ich gerne noch gut, aber der soziale Druck, im Urlaub Fotos zu produzieren, wirkt stark genug, dass ich ein paar möglichst abseitiger Motive eingefangen habe. Am schönsten natürlich das wirklich eindrucksvolle Gewerkschaftshaus.

    Die Stadt ist außerordentlich voll, was am Feiertag liegen mag. Nach dem heutigen eher orientierungslosen Spazierengehen werden wir morgen und Samstag deutlich mehr planen und auch etliche Museen ansteuern, allein schon zur Entspannung. Die Stadt ist wirklich sehr voll.

  • Josefine Soppa — Mirmar

    Von Josefine Soppa las ich im Winter eine eindrucksvolle Kurzgeschichte im Literaturmagazin Edit und bestellte prompt ihr Debüt vor.

    Mirmar handelt von einer Mutter-Tochter-Beziehung in einer prekären Gig-Economy und der Flucht aus dieser. Der harte Realismus der Lebenswelten wird dabei auf ganz besondere Art mit einer seltsamen Welt im Verfall verbunden. Ferienwohnungen, deren Besitzer sie vergessen haben, Tankstellen, die niemand mehr anfährt, verwaiste Einkaufszentren und Strände.

    Fast ein wenig Fantastik oder das, was man wohl magischen Realismus nennt. Ein herausragendes Buch.

  • Benjamin von Stuckrad-Barre – Noch wach?

    Am beeindruckendsten an diesem Buch ist, wie leicht mich das Marketing (Spielt im SPRINGER MILIEU!1) eingewickelt hat. So ist ausgerechnet Noch wach? ein Buch – wahrscheinlich das erste -, welches ich AM ERSCHEINUNGSTAG erworben habe.

    Ansonsten ist der Plot dürr, der Ich-Erzähler langweilig und die Schreibe unterhaltsam. Ja, Stucki KANN ES NOCH, die Alltagsbeobachtung, das präzise Beschreiben, der zynisch-ironische neunziger Jahre-Stil. LOVE IT OR HATE IT. I liked it.

  • Simon Reynolds – Retromania

    Retromania entlieh ich, weil Alexander Matzkeit in seinem Beitrag Das Ende der Hyper-Stasis? darauf und auf den von Reynolds geprägten Begriff eben jener Hyper-Stasis (in der deutschen Übersetzung Hyperstase) verwies. Schon die Einleitung seines Textes holte mich in meinen momentanen Themen außerordentlich gut ab:

    Alles beschleunigt, aber nichts verändert sich. Das ist das dominante Zeitgefühl der Postmoderne, spätestens seit Beginn des neuen Jahrtausends. Die Krisen mögen zunehmen, die Computerchips kleiner werden, aber wann war das letzte Mal, dass wir in der nördlichen Hemisphäre wirklich das Gefühl hatten: Oh, das ist neu, und das wird alles verändern?

    Reynolds zeichnet die Popgeschichte minutiös entlang ihrer Verweise, Bezüge, Referenzen, Zitate nach und spitzt diese Entwicklung auf seine These zu, wonach Originalität und Innovation zuletzt und vor allem im neuen Jahrtausend (das Buch ist von 2011) weitgehend unter die Räder gekommen sei.

    Ich finde dieses Auftürmen von Nerdwissen – ähnlich wie bei Monolithic Undertow – immer leicht anstrengend, weil es sich in meiner unfairen Bewertung um unnützes Wissen handelt, was natürlich Unsinn ist. Aber Retromania nimmt für mich eben erst nach rund 350 Seiten Gestalt an, wenn Reynolds seiner akribischen Geschichtsforschung den theoretischen Unterbau hinzufügt. Hier werden zahlreiche hochinteressante Verweise auf Essays und Theoretiker gezogen, erst hier fällt auch der Begriff der Hyperstase.

    Interessant ist hier etwa das Argument, wonach musikalische Innovation sich in den vergangenen Jahren mehr in Technologie – von MP3 bis Spotify – ausgedrückt hätte als in der Musik selbst. Das knüpft an meinen Eindruck an, wonach Innovation in der gesamten Gesellschaft inzwischen ausgelagert ist in den digitalen Raum, während die Lebenswelten im langen zwanzigsten Jahrhundert verharren dürfen und sollen. Die aktuellen politischen Debatten illustrieren dies eindrucksvoll.

    Interessant ist aber auch dieser Absatz, der mich unangenehm klar beschreibt:

    Es ist kein Zufall, dass atmosphärische Instrumentalmusik in den letzten fünf Jahren in den über Blogs vermittelten Szenen in Europa und Nordamerika immer populärer wurde. Diese Gruppen lehnen ihre Musik an den Space Rock der 60er und 70er, New Age und Library Music an. Eine ganze Generation ist in Erscheinung getreten, die das Gefühl hat, nichts zu sagen zu haben; sie macht Musik, bei der es weder darum geht, sich von inneren Zwängen frei zu machen, noch gegen soziale Beschränkungen zu rebellieren.

  • Jenny Odell – Nichtstun

    Dieses Buch war auf meiner Liste und wurde entsprechend geflissentlich aus der Stadtbücherei ausgeliehen, ich habe nur keinen Schimmer mehr, wie und warum es auf die Liste gelangte.

    Es ist keineswegs schlecht, aber es passt auch nicht wirklich zu irgendeinem der Themenstränge, die mich interessieren. Es hat allerdings auch sehr wenig mit Nichtstun und auch nicht viel mit der Aufmerksamkeitsökonomie zu tun. Es geht nicht um Digital Detox oder ähnlichen Unsinn.

    Worum es geht, kann Jenny Odell sehr gut selbst erklären:

  • Thomas Köner – DAIKAN

    Heute musste ich wieder an DAIKAN denken – ich schrieb bereits davon. Warum ich vergangenes Jahr nicht die LP bei Bandcamp erworben habe, erschließt sich mir heute nicht mehr; vielleicht gab es sie noch nicht. Heute habe ich sie jedenfalls gekauft.

    Jetzt muss ich nur noch irgendwie das fantastische Standbild des Youtube-Streams als Poster erwerben.

    Es handelt sich nicht um irgendeine „Fotografie von einer der Grönlandfahrten von Alfred Wegener„, wie ich vergangenes Jahr schriebm sondern um sein Grab:

    12, May 1931 the body of Alfred Wegener is found on the ice of Greenland, the remaining members of the expedition led by Kurt Wegener, Alfred´s brother, use a drill pipe to mark the grave with a cross. They respected Wegener´s love to the Arctic and buried him in the ice he had studied for many years and on various expeditions (photography by the Alfred Wegener Institute).

    70th Anniversary of Wegener’s death

  • Imre Kertész – Roman eines Schicksallosen

    Eines der Bücher, bei denen ich mir eine Bewertung nicht nur nicht zutraue, sondern mir auch nicht anmaßen will. Der Klappentext sagt:

    Imre Kertész ist etwas Skandalöses gelungen: die Entmystifizierung von Auschwitz.

    Umso erschütternder, wenn man dann liest, dass sich dahinter noch eine weitere Ebene auftut.

  • Gelesen (und geremixt): Hannes Bajohr – Schreiben in Distanz

    Sehr lesenswert finde ich die unter dem Titel Schreiben in Distanz veröffentlichte Hildesheimer Poetikvorlesung vom Hannes Bajohr. Es geht um digitale Literatur (das titelgebende Schreiben in Distanz oder Schreiben zweiter Ordnung), die Wahrhaftigkeit des Glitches, Pathos und künstliche Intelligenz, Stoff und Form. Das alles kompakt und verständlich auf rund einhundert Seiten.

    Das Buch ist unter Creative-Commons-Lizent 4.0 frei verfügbar, kann aber auch beim Hildesheimer Universitätsverlag erworben werden. Hier geht es zum Download.

    Schön ist beispielsweise der Text Über mich selbst — und seine Entstehung:

    Zusammen mit Gregor Weichbrodt habe ich eine große Masse an Profilen der Datingseite Parship ›gescraped‹, das heißt, automatisiert heruntergeladen. Am Ende hatten wir etwa 7000 Profile heterosexueller männlicher Nutzer. Weil es bei Parship vor allem um die Selbstpräsentation geht, haben alle Sätze, die mit ›ich bin‹ beginnen, herausgefiltert und über einen Python-Code anschließend mit verschiedenen Konjunktionen – also Wörtern wie ›und‹, ›aber‹, ›andererseits‹ – zu einem großen, ausladenden Monolog verbunden.

    Per Text to Speech ergab sich ein rund dreieinhalbminütiger Monolog, den ich meinen bewährten Lärmroutinen ausgesetzt habe.

    Eine zweite Version verfremdet den Text deutlich weiter. Im Ergebnis wahrscheinlich ein schlechteres und zu langes Fitter, Happier, More Productive, aber ein großes Vergnügen im Schaffensprozess.