Mit höchster Konzentration vermeide ich alle Keystrokes und Klicks, die mir Nachrichten, Eilmeldungen, politische Memes und dergleichen ins Sichtfeld rücken könnten. Ich möchte mich mit dieser Präsidentschaftswahl frühstens morgen früh, und auch dann erst nach einer Tasse oder zwei Tassen Kaffee beschäftigen.
Zu anstrengend habe ich die Tage und Wochen vor vier Jahren in Erinnerung, die mit der ausgesprochen zähen, weil ergebnisarmen Wahlnacht begannen und mit dem Grauen des 6. Januar endeten, das ich voller Gewissheit, es stünde ein amerikanischer Bürgerkrieg bevor, am Rechner verfolgte.
Gimmick
Politisches Interesse, besser noch: politisches Interessiertsein, wohnt mir immer noch inne. Ich habe den Stoff, der ja eigentlich für jedermann sein sollte, studiert, erlernt, mich daran gewohnt und halte ihn – das wohl vor allem – für unterhaltsam. Der Prozess der Umkehrung, nennen wir ihn De-Programming, ist langwierig und anstrengend.
Ich höre das Oktober-Feature der besten auf Bandcamp erschienenen Ambient-Tracks, kuratiert von Ted Davis. Es beginnt mit einem vierzigminütigen Stück von William Basinski. Das ist der Mann mit den Disintegration Loops, die ich sehr schätze, deren Bekanntheit wohl aber vor allem darauf zurückzuführen ist, dass sie im Kontext des elften Septembers erschienen ist. Das scheint typisch für diese Art von Musik: Selten kann sie für sich stehen, sondern muss immer mit irgendeinem Gimmick versehen sein. Jana Winderen, die seltene Unterwasserarten per Hydrophon aufnimmt, Found Sound in den Ruinen rund um Tschernobyl und dergleichen.
geronnene Zeit
Ich lese die aktuelle Ausgabe des Leipziger Literaturmagazins Edit. Das Editorial beginnt mit dem schönen Satz: Die Gegenwart sperrt sich gegen das Wort. Das liegt daran, dass sie den Charakter eines Punktes in der Zeit hat, mithin verschwindet, je stärker man sich auf sie fokussiert. Letztlich ist sie nur die Schwelle zwischen Vergangenheit und Zukunft. So kann man sich eine zukünftige Gegenwart (oder eine gegenwärtige Zukunft) vorstellen, oder an eine vergangene Gegenwart erinnern. Schreibe ich jedoch über die Gegenwart, was ich in der Tat gerade tue, dann ist sie schon vergangen, während ich noch schreibe, und noch weiter vergangen, wenn Sie dies lesen.
In der Politik, das beschäftigt mich, gilt die weitestmögliche Erstreckung der vergangenen Gegenwart in die Zukunft. Die Art wie wir im zwanzigsten Jahrhundert gelebt haben, oder meinen gelebt zu haben, darf nicht enden. Das ist implizites Programm weiter Teile der deutschen Parteienlandschaft und spielt zweifellos auch in den Vereinigten Staaten von Amerika eine Rolle. Die zukünftige Gegenwart ist eine, die mit Verlust assoziiert wird. Sich dagegen zu sperren ist keine irrationale Reaktion.
William Basinskis Stück September 23rd ist, seinem Genre weitgehend entsprechend, ähnlich geronnene Zeit. Veränderung findet darin allenfalls gletscherhaft statt. Die Aufnahme ist überdies, lese ich, aus dem Jahr 1982 und sei nun vermittels der Cut-up Technik ver- oder zerarbeitet worden, um ihren gegenwärtigen Charakter zu erhalten.
Kausalität sei
Die gegenwärtigen Zukünfte unterscheiden sich maßgeblich darin, ob die eine oder die andere Person US-Präsident geworden sein wird. Daraus leiten sich zahlreiche weitere zukünftige Gegenwarten ab, etwa die momentan tobenden Kriege betreffend, oder auch die wirtschaftliche Entwicklung. So ist alles eine Abfolge von Ursachen und Wirkungen, die ihrerseits Ursachen werden. Der initiale Fehler liege schon in der US-Verfassung begründet, wie ein gewisser Sanford V. Levinson in einem Interview mit dem Verfassungsblog bekanntgab, das ich vor acht Jahren bookmarkte.
Kausalität sei, schrieb ich mal in eine Notiz, ein Schema für Beobachtungen zweiter Ordnung.
Ich beobachte die Bundesregierung, wie sie unterschiedliche Höhen von Transfergeldern unterscheidet und bezeichnet, dass sie höher sein müssten, um als Ursache der Senkung von Armut zu wirken. Die Opposition in Form der CDU/CSU streitet das gar nicht ab, gibt aber eine weitere, ungewollte Wirkung zu bedenken, nämlich, dass sich Arbeit dann nicht mehr lohne. Die Opposition in Form der Linkspartei streitet die Wirkung der Erhöhung in der vorgeschlagenen Form ab, die zu gering sei. Aus ihrer Sicht müsse eine ganz andere viel höhere Ursache für die gewünschte Wirkung eingesetzt werden.
Die Kopplung von Ursache und Wirkung verkopple zugleich die Vergangenheit (Hartz IV) mit der Zukunft (Bürgergeld) in der Gegenwart. Sie gibt der in Parteien populären Fiktion vom „Gestalten“ und einer tatsächlich planbaren Zukunft Ausdruck. Das fortwährende Scheitern dieser Planungen, jüngst etwa des 1,5 Grad-Ziels, wird in das fortwährende politische Weiterarbeiten eingewoben: Bangemachen ist nicht, dicke Bretter bohren, kleine Schritte, ruhige Hand, Woche der Entscheidung. So sind die heutigen Lösungen auf die Probleme von gestern zugleich die Probleme von morgen.